Die Beschuldigung des Ritualmords durch Juden besagt, dass diese aus Hass gegen Jesus und die Christen unschuldige christliche Kinder rituell ermorden. Dieser Vorwurf tauchte erstmals im Jahr 1144 in Norwich auf. Nach der Verkündung der Transsubstantiationslehre im Jahr 1215 wurde auch von Blutentnahmen gesprochen.
Der Vorwurf der Ritualmordlegende verbreitete sich von England aus über ganz Europa aus. Besondere Verbreitung fand die Legende in England, Frankreich, Spanien, entlang des Rheins und Mains, am Bodensee, im Alpenraum und ab dem 16. Jahrhundert in Polen. Durch die Einflussnahme christlicher Missionare und antisemitischer Agitatoren fand die Anschuldigung auch Eingang in den Nahen Osten und führte dort regelmäßig zu Verfolgungen von Juden. Trotz Protesten einiger Kaiser und Päpste, die die Anklagen zurückwiesen und zu unterbinden suchten, wurden viele angebliche Ritualmordopfer (es gibt etwa zwei Dutzend dokumentierte Fälle in Europa) verehrt und als Märtyrer angesehen.
Die Legende besagt im Kern, dass ein Kind entführt oder gekauft wird und ihm in qualvollen Martern das Blut entzogen wird. Dieses Blut soll nach Ansicht der Verfolger für religiöse, magische oder medizinische Zwecke verwendet werden, insbesondere bei der Zubereitung der Mazzen. Der Aberglaube des Mittelalters besagte, dass Juden Blut benötigten, um ihre angebliche jüdische Hornbildungen zu beseitigen, ihren vermeintlichen jüdischen Gestank zu lindern oder um bei schwierigen Geburten als Medizin zu dienen. Es wurde behauptet, dass das Blut von Menschen, insbesondere von unschuldigen Menschen, von der Gottheit angenommen würde. Da nach christlicher Ansicht ein getauftes Kind nach und nach seine Unschuld verliert, wurden hauptsächlich drei- bis zehnjährige Jungen als Ritualmordopfer dargestellt. Diese Fiktion wurde durch den Glauben verstärkt, dass das Blut von Jungen eine höhere Opferqualität habe als das von Mädchen. Verletzungen im Genitalbereich der männlichen Opfer wurden als Anzeichen einer Beschneidung gedeutet.
Im Inquisitionsprozess gegen die Juden von Trient im Jahr 1475 führten die Ankläger nicht nur erpresste „Geständnisse“ herbei, sondern erstellten auch das gesamte Schema der Ritualmordbeschuldigung während der wiederholten gewaltsamen Verhöre. Die „jüdische Missetat“ wurde über ganz Europa verbreitet durch Abschriften der Verhörprotokolle, Druckerzeugnisse, Gedichte, Predigten, Spiele und Illustrationen. Von nun an konnten neue Verdachtsmomente problemlos in dieses Deutungsmuster eingefügt werden.
Eine weitere Besonderheit ist die Fokussierung auf das Blutritual, das nichts mit dem Judentum zu tun hat, aber dafür umso mehr mit der Mystik um Blut im Christentum. Dem Blut Jesu kommt eine besondere Bedeutung zu, es wird symbolisch sogar beim Abendmahl oder Kommunion getrunken. Die christliche Mehrheitsgesellschaft war also, anders als die Juden, sehr vertraut mit Ritualen rund um Blut. Das zeigt deutlich, dass die Verschwörungserzählungen eine spezifische Funktion für die Mehrheitsgesellschaft hatten und auf ihre Gewohnheiten angepasst waren, statt irgendeinen Realitätsbezug im Judentum zu haben.
Im 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus, der sich von seinem christlich-theologischen Hintergrund gelöst hatte, wurden neue Behauptungen erfunden, die das überlieferte Muster variierten und damit das Wahngebilde erneut bestätigten. Diesmal richtete sich der Vorwurf vor allem gegen christliche Mädchen und Jungfrauen und umfasste sexuelle Perversion, Blutschande und Schächtmord. Im Mittelalter waren die Beschuldigten hauptsächlich die Ältesten der jüdischen Gemeinden und die Rabbiner. In der Neuzeit wurden auch Religionslehrer, Tora-Studenten, Mohelim (Beschneider) und Schlächter verdächtigt. Früher waren Wunden am Körper des Opfers, der Geruch, den seine Leiche verbreitete, das besondere Leuchten und die Wunder, die von ihm ausgingen, Beweise für rituellen Mord. In neuerer Zeit gehörten die „typischen Merkmale“ der Leiche die Blutleere des Körpers und der „Schächtschnitt“.
Um ihre abstrusen Anschuldigungen plausibel erscheinen zu lassen, interpretierten Judenfeinde jeden Einwand als Bestätigung. Wenn der rituelle Mord angeblich eine verpflichtende religiöse Vorschrift ist, wurde die Frage aufgeworfen, warum Ritualmorde relativ selten oder an manchen Orten überhaupt nicht vorkamen. Die antisemitische Antwort lautete, dass die Vorsteher in einer geheimen Versammlung eine Gemeinde auswählen, die stellvertretend für die gesamte jüdische Gemeinschaft das Ritual durchführt. Alternativ wurde behauptet, dass das Blut getrocknet und in Flaschen an die Verbraucher versandt wurde. Während der Damaskus-Affäre im Jahr 1840 entstand die „Sektentheorie“, die besagte, dass nicht alle Juden, sondern nur eine kleine, fanatische Elite von Männern mit dem geheimen Blutritual des Talmuds vertraut seien und von Zeit zu Zeit einen rituellen Mord begehen würden. Ein klassisches Beispiel der kognitionswissenschaftlichen Interpretation: Ein Verleumder, der seine Behauptung nicht aufrechterhalten kann, interpretiert sie als Ausnahme von der Regel.
Heute findet sich der Mythos des Ritualmordes beispielsweise bei der QAnon-Bewegung, die glaubt, eine geheime Elite würde Kinder gefangen halten und ihr Blut trinken. Auch in Bezug auf den Staat Israel werden aktualisierte Formen des alten Mythos verwendet, wenn auf Demonstrationen „Kindermörder Israel“ gerufen wird.